Gemmotherapie: keine Belege für Heilwirkung von Knospen

Der Gemmotherapie zufolge sollen Pflanzen-Knospen zahlreiche Krankheiten heilen. Dafür fehlen jedoch wissenschaftliche Studien zur Bestätigung.

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Haben Extrakte aus Keimlingen oder Knospen eine gesundheitliche Wirkung?

Die Behauptungen der Gemmotherapie sind bisher nicht in wissenschaftlich durchgeführten Wirksamkeitsstudien untersucht worden.

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Junge Tannentriebe Heilkraft in Tannentrieben?
© Iosif Szasz-Fabian – fotolia.com

Wer im asiatischen Restaurant ein Gericht mit Sojasprossen bestellt, denkt wahrscheinlich eher an eine hungerstillende und weniger an eine heilsame Wirkung. Der Theorie hinter der Gemmotherapie zufolge sollen Knospen und junge Triebe vieler Pflanzen jedoch auch positive Wirkungen auf die Gesundheit haben. Der Begriff Gemmotherapie stammt vom lateinischen Wort gemma für Knospe.

Käuflich erhältlich sind Extrakte aus Knospen oder jungen Trieben verschiedenster Pflanzen. Sie werden als Mundsprays oder Tropfenpräparate angeboten. Die behaupteten Wirkungen sind breit gestreut [1,2]. Lindenknospen etwa verhelfen angeblich zu besserem Schlaf, sie sollen aber auch das Blut reinigen können. Knospen des Weißdorns wirken der Lehre zufolge auf den Herzmuskel und beeinflussen den Herzrhythmus, während Triebe der schwarzen Johannisbeere angeblich bei Insektenstichen Linderung bringen. Manche Präparate wiederum sollen entschlackend wirken.

Gemmotherapie ohne wissenschaftliche Grundlage

Belege für solche Behauptungen gibt es allerdings nicht. Trotz umfangreicher Recherche konnten wir keine Studien finden, die eine gesundheitliche Wirkung von Knospen und Keimen wissenschaftlich nachvollziehbar überprüft haben.

Viele dieser Behauptungen sind so vage und unklar, dass sie sich wissenschaftlich gar nicht überprüfen lassen. Das gilt zum Beispiel für die angeblich „entschlackende“ Wirkung. „Schlacken“ sind in der Medizin nicht bekannt; es gibt auch keine Definition, woraus sie bestehen sollen. Es ist daher unklar, wie sich eine entschlackende Wirkung nachweisen ließe. Wir haben dazu bereits einen eigenen Beitrag veröffentlicht. Ähnlich vage ist die Werbung mit einer „blutreinigenden“ Wirkung. Auch hier gilt: Weil unklar ist, was damit gemeint ist, lässt sich das nicht wissenschaftlich erforschen.

Die anderen Behauptungen sind zwar konkreter, aber ebenfalls nicht in Studien überprüft. Für keine davon gibt es daher Hinweise auf eine Wirksamkeit.

Mythen statt Fakten

Für die Behauptungen rund um die Gemmotherapie fehlt es nicht nur an Beweisen. Es gibt auch keine nachvollziehbare, wissenschaftliche Erklärung dafür.

Die Lehre hinter der Gemmotherapie begründet die angebliche Wirksamkeit damit, dass Knospen und Keime wachstumsfördernde Substanzen enthalten. Tatsächlich bestehen junge Pflanzentriebe aus vielen Zellen, die den Stammzellen bei Tier und Mensch ähnlich sind. Diese „pflanzlichen Stammzellen“ können sich zu beliebigen Pflanzenteilen wie Blättern, Wurzeln oder Stängel weiterentwickeln. Wie und warum Stoffe, die pflanzliche Zellen wachsen lassen, die Gesundheit des Menschen fördern sollen, kann die Lehre allerdings nicht erklären.

Wissenschaftlich falsch ist ein weiterer Erklärungsversuch: Demnach sollen sich alle Krankheiten nur anhand der Konzentrationen von fünf verschiedenen Blutproteinen feststellen lassen. Für jedes der fünf Eiweiße, dessen Konzentration erniedrigt oder erhöht ist, stehen der Lehre zufolge bestimmte Pflanzen zur Verfügung. Deren Knospen sollen die Eiweiß-Konzentration im Blut wieder „ins Lot bringen“ [1].

Es ist allerdings nicht möglich, Krankheiten lediglich anhand der Konzentration von ein paar Blutproteinen zu diagnostizieren. Ob Knospenextrakte die Menge an Blutbestandteilen verändern können, wurde zudem nie in Studien untersucht.

Kulinarischer statt medizinischer Wert

In der Küche haben Knospen und junge Triebe auch ohne Heilsversprechungen großen Wert. Der kulinarische Gebrauch beschränkt sich nicht nur auf Soja- oder Bambussprossen in fernöstlichen Gerichten. So verspeisen Menschen in Frankreich oder spanischsprachigen Ländern etwa gerne Palmherzen. Dabei handelt es sich um den Meristem-haltigen Wachstumskegel an der Spitze verschiedener Palmenarten.

Ein bei uns beliebtes Sprossengemüse ist der Spargel. Auch die jungen Triebe von Fichten-, Lärchen- oder Tannenzweigen lassen sich zubereiten – ein Sirup daraus gilt als Hausmittel gegen Husten. Wer von der hustenlösenden Wirkung nicht überzeugt ist, kann den Sirup auch einfach mit Wasser verdünnt als Limonade genießen. Und dazu vielleicht ein Butterbrot mit Gartenkresse verzehren – auch dabei handelt es sich um Sprossen.

Die Studien im Detail

Ob Präparate der Gemmotherapie bei verschiedenen Gesundheitsproblemen helfen, ließe sich am aussagekräftigsten mit randomisiert-kontrollierten Studien überprüfen. Dazu wird eine große Anzahl an Betroffenen nach dem Zufallsprinzip (randomisiert) einer von zwei Gruppen zugelost: Die Behandlungsgruppe enthält ein Gemmotherapie-Präparat, und die Kontrollgruppe zum Vergleich ein Scheinpräparat (Placebo) ohne Gemmotherapie-Inhaltsstoffe, das gleich aussieht und schmeckt. Idealerweise wissen weder Teilnehmende noch Forschende, wer die echte Gemmotherapie bekommt und wer das Scheinpräparat. Fachleute sprechen dann davon, dass die an der Studie beteiligten Personen „verblindet“ sind.

Wichtig ist, dass bereits vor Studienbeginn definiert ist, welches Gesundheitsproblem genau untersucht werden soll, und welche Beschwerden sich verringern müssen, um ein Mittel als wirksam bewerten zu können. Gut untersuchen ließe sich beispielsweise, ob sich bei Betroffenen mit wiederkehrenden Verdauungsbeschwerden die Häufigkeit von Bauchschmerzen oder Durchfall verringert.
Nicht in einer Studie überprüfbar wäre hingegen die Frage, ob ein Präparat eine „entschlackende“ oder „blutreinigende“ Wirkung hat. Denn es ist unklar, wie sich hier eine Wirksamkeit feststellen lassen würde, und welche Beschwerden sich dabei bessern müssten, um eine Wirksamkeit beweisen zu können.

Wir haben drei Forschungsdatenbanken nach solchen Studien zu Extrakten aus Keimen und Knospen durchsucht – egal aus welcher Pflanze. Gefunden haben wir eine einzige Studie [3], allerdings zu einer Behandlung, die für die Gemmotherapie eher untypisch ist. Untersucht wurde, ob Nelken-Extrakt Kater-Beschwerden durch Alkohol vorbeugen kann. Auch bei Nelken handelt es sich um Blütenknospen, die vor der Verwendung als Gewürz getrocknet werden.

Die Forschungsgruppe hinter der Studie kommt zum Schluss, dass die vorbeugende Einnahme von Nelkenextrakt Katersymptome mildern kann. Da nur 16 Personen teilgenommen haben und unklar ist, wie verlässlich die Katerbeschwerden überhaupt erhoben wurden, halten wir die Aussagekraft der Studie jedoch für sehr gering.

Studien zu häufig behaupteten Wirkungen der Gemmotherapie haben wir keine gefunden. Es gibt also keine Hinweise darauf, dass Gemmotherapie-Präparate die Gesundheit verbessern.

[1] Andrianne & Leunis (2008)
Les bases de la prescription en gemmothérapie: paramètres biologiques sériques et phytosociologie. Phytothérapie 6.5 (2008): 301-305 (Englische und französische Zusammenfassung des französischen Artikels)

[2] Andrianne (2008)
La gemmothérapie: passé, présent et avenir. Phytothérapie 6.1 (2008): 29-32 (Englische und französische Zusammenfassung des französischen Artikels)

[3] Mammen (2018)
Mammen RR, Natinga Mulakal J, Mohanan R, Maliakel B, Illathu Madhavamenon K. Clove Bud Polyphenols Alleviate Alterations in Inflammation and Oxidative Stress Markers Associated with Binge Drinking: A Randomized Double-Blinded Placebo-Controlled Crossover Study. J Med Food. 2018 Nov;21(11):1188-1196. (Zusammenfassung der Studie)

  • 23. 2. 2023: Bei einer neuen Literatursuche fand sich eine aktuellere Studie [3] – die Einschätzung veränderte sich jedoch nicht. Text geringfügig umformuliert.
  • 1. 12. 2016: Eine neuerliche Literatursuche ergab keine zusätzlichen Studien
  • 23. 7. 2015: Erste Version

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