Dieser Beitrag ist älter als vier Jahre, möglicherweise hat sich die Studienlage inzwischen geändert.

Stillen: Muttermilch mit Langzeit-Schutz?

Säuglinge, die Muttermilch trinken, haben gesundheitliche Vorteile. Doch wirkt sich diese Ernährungsform auch positiv auf das spätere Leben aus? Studien sagen: möglicherweise.

Hat das Trinken von Muttermilch im Babyalter eine positive Wirkung auf die spätere Gesundheit und Entwicklung?

Möglicherweise werden Kinder, die lange ausschließliche gestillt wurden, später etwas weniger wahrscheinlich übergewichtig. Zudem gibt es Hinweise, dass ihr IQ geringfügig höher ist. Allerdings kann der Einfluss des Muttermilch-Trinkens nur schwer isoliert werden. Daher ist es fraglich, welche Bedeutung die gefundenen Effekte in der Praxis haben.

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© AlexRaths - iStockphoto.com Bringt Stillen Langzeitvorteile für das Baby?
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Stillen ist das Beste fürs Baby – dies behaupten sogar Hersteller von Säuglingsnahrung. Auch die WHO empfiehlt, Säuglinge während der ersten sechs Lebensmonate ausschließlich mit Muttermilch zu füttern. Das Trinken an Mamas Busen gilt als natürlich, praktisch und bindungsfördernd. Belegt ist jedenfalls, dass diese Ernährungsform gewisse gesundheitliche Vorteile hat – etwa ein geringeres Risiko für einige Infektionserkrankungen im Säuglingsalter [2] [4] [9] und den plötzlichen Kindstod, wie wir hier berichtet haben.

Tatsächlich stillen in Industrieländern viele Mütter nach der Geburt. Sie stillen jedoch meistens nach einigen Wochen bis Monaten komplett ab oder beginnen zumindest mit dem Zufüttern von spezieller Fertignahrung. Dies kann gesundheitliche, berufliche oder persönliche Gründen haben. [10]

Errechneter Vorsprung …

Wirkt sich eine kurze Stilldauer bzw. das Verabreichen von Flaschenmilch langfristig auf die Gesundheit aus? Sind negative Folgen bei Kindern und Jugendlichen aus Industrieländern nachweisbar?

Dieser nicht ganz einfach zu beantwortenden Frage gingen Forscher aus Brasilien im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO nach [2][6,7]. Sie analysierten den Einfluss des Stillens auf Cholesterinspiegel, Blutdruck, Typ-2-Diabetes, Intelligenz, Übergewicht und Fettleibigkeit. In ihren systematischen Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen konnten sie gewisse Vorteile für gestillte Kinder ausmachen. Im späteren Leben ist das Risiko für Übergewicht etwas gesenkt [5,6],der IQ von Stillkindern scheint ist um einige wenige Punkte höher zu sein [7].

Dass möglichst langes Stillen hingegen vor Bluthochdruck, einem hohen Cholesterinspiegel oder gar Typ-2-Diabetes bewahrt, können die zusammengefassten Ergebnisse bisheriger Studien nicht belegen [6].

… und tatsächlicher Effekt?

Allerdings sind die Autoren in den 2015 aktualisierten Publikation [6,7] mit der Ergebnisinterpretation zurückhaltender als bei ihrer ersten Arbeit aus dem Jahr 2007, für die weniger Daten zur Verfügung standen. Sie geben zu bedenken, dass manche Effekte in der Statistik durch Mängel in den zugrunde liegenden Studien zustande kommen könnten.

Die Frage nach einem höheren IQ bei Stillkindern greift auch eine systematische Übersichtsarbeit [3] aus dem Jahr 2013 auf. Zusammenfassend sind die Autoren der Ansicht, dass durch das Trinken von Muttermilch wohl kein praktischer Nutzen entsteht. Der bereits mehrmals postulierte Vorteil komme vermutlich durch Verzerrungseffekte zustande.

Soziale Umgebung wichtiger als Nahrung?

Weil sie Verzerrungseffekte möglichst vermeiden wollten, wendeten Forscher von der Ohio State University einen speziellen Kniff an [1]. Sie verglichen Geschwister aus einer US-amerikanischen Kohortenstudie: gestillte und Flaschenkinder, die jeweils in ein und derselben Familie aufgewachsen waren. Nach diesem innerfamiliären Abgleich waren die vermeintlichen Unterschiede z. B. hinsichtlich Body-Mass-Index, Leseleistung und Hyperaktivität deutlich schwächer bis gar nicht mehr vorhanden.

Die vorläufige Conclusio der Autoren: Das Trinken von Muttermilch sorgt wohl nicht für Vorteile in der langfristigen Entwicklung – zumindest hinsichtlich der elf hier untersuchten Werte. Vielmehr seien soziale und ökonomische Faktoren im Elternhaus entscheidend; dazu gehören Einkommen, Bildung, Ethnie oder Gesundheitsbewusstsein. So interessant der Ansatz dieser 2014 veröffentlichten Beobachtungsstudie auch ist – ihre Bedeutung wird sich erst endgültig beurteilen lassen, wenn ein Vergleich mit anderen Geschwisterstudien möglich ist.

In Zukunft: hoffentlich erhellende Studien

Es ist also zu hoffen, dass aussagekräftige Studiendesigns in den kommenden Jahren das Bild von langfristigen Still-Effekten schärfen. So könnte es etwa sein, dass Stillen hilft, das Risiko für bestimmte Krebsformen bei Kindern zu senken [4] [8,9]. Gesichert ist das allerdings keineswegs.

Zurzeit liegen viele Untersuchungen mit diversen Hinweisen auf Gesundheitseffekte vor; diese sind allerdings oft nur schwer miteinander vergleichbar. Denn das Stillen hat in der Praxis viele Variationen: In punkto Dauer und Häufigkeit sowie Zeitpunkt und Ausmaß des Fütterns von Beikost gibt es große individuelle Unterschiede.

Wie bereits erwähnt, wird häufig kritisiert, dass Still-Beobachtungsstudien sozialen Verzerrungseffekten unterliegen. Diese können nicht immer sauber ‚herausgerechnet’ werden.

Aus ethischen Gründen sind keine randomisiert-kontrollierten Studien möglich – nur diese Untersuchungen könnten einen Zusammenhang zwischen Ursache (Muttermilch, Flaschenmilch) und Wirkung (gesundheitliche Langzeiteffekte) nachweisen. Analysen der Daten von unterschiedlich gefütterten Geschwistern aus demselben sozioökonomischen Umfeld und mit ähnlichen Genen sind ein möglicher Weg, um sich der Wahrheit über die tatsächlichen Kräfte von Muttermilch besser anzunähern.

[1] Colen, Ramey (2014)
Studientyp: prospektive Kohortenstudie (National Longitudinal Survey of Youth, USA)
Teilnehmer: über 8000 Kinder aus den USA; darunter 1776 unterschiedlich ernährte Geschwisterkinder (Flaschenmilch/Muttermilch) aus 665 Familien, die auf 11 mögliche Langzeiteffekte im Alter von 4 bis 14 Jahren untersucht wurden
Fragestellung: Gibt es bei gestillten Babys im späteren Leben positive gesundheitliche Langzeiteffekte?

Cynthia G. Colen, David M. Ramey (2014). Is Breast Truly Best? Estimating the Effects of Breastfeeding on Long-term Child Health and Wellbeing in the United States Using Sibling Comparisons, Social Science & Medicine
Zusammenfassung

[2] Horta, Victora (2013)
Studientyp: mehrere systematische Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen
Fragestellung:Hat das Trinken von Muttermilch positive Langzeiteffekte für die Gesundheit des Kindes?

Bernardo L. Horta, Cesar C. Victora (2013). Long-term effects of breastfeeding: a systematic review. WHO World Health Organisation. Volltext

[3] Walfisch u.a. (2013)
Studientyp: systematische Übersichtsarbeit
eingeschlossene Studien:84
Fragestellung: Besteht ein Zusammenhang zwischen dem Trinken von Muttermilch und der geistigen Entwicklung (insbesondere IQ)?
Mögliche Interessenskonflikte: Keine angegeben.

Walfisch A, Sermer C, Cressman A, Koren G. Breast milk and cognitive development–the role of confounders: a systematic review. BMJ Open. 2013 Aug 23;3(8):e003259. Volltext

[4] Krame, Kakuma (2012)
Studientyp: systematische Übersichtsarbeit und Meta-Analyse der Cochrane Collaboration
Fragestellung: Wie lange sollten Kinder ausschließlich gestillt werden (ohne Zugabe anderer Kost)?
Mögliche Interessenskonflikte: Keine laut Autoren

Kramer MS, Kakuma R. Optimal duration of exclusive breastfeeding. Cochrane Database of Systematic Reviews 2012, Issue 8. Art. No.: CD003517. Zusammenfassung

[5] Yan u.a. (2014)
Studientyp: systematische Übersichtsarbeit und Meta-Analyse
Fragestellung: Senkt Stillen das Risiko für späteres Übergewicht?
Analysierte Studien: 25 Beobachtungsstudien
Teilnehmer insgesamt: 226.508
Mögliche Interessenskonflikte: Keine laut Autoren

Yan J, Liu L, Zhu Y, Huang G, Wang PP. The association between breastfeeding and childhood obesity: a meta-analysis. BMC Public Health. 2014 Dec 13;14:1267. (Übersichtsarbeit in voller Länge)

[6] Horta u.a. (2015)
Studientyp: systematische Übersichtsarbeit und Meta-Analyse
Fragestellung: Senkt Stillen das Risiko für späteres Übergewicht, einen hohen Cholesterinspiegel, Bluthochdruck und Typ2 Diabetes?
Analysierte Studien: 25 Beobachtungsstudien
Teilnehmer insgesamt: 226.508
Mögliche Interessenskonflikte: Keine laut Autoren

Horta BL, Loret de Mola C, Victora CG. Long-term consequences of breastfeeding on cholesterol, obesity, systolic blood pressure and type 2 diabetes: a systematic review and meta-analysis. Acta Paediatr. 2015 Dec;104(467):30-7. (Zusammenfassung der Übersichtsarbeit)

[7] Horta u.a. (2015)
Studientyp: systematische Übersichtsarbeit und Meta-Analyse
Fragestellung: Erhöht Stillen den späteren IQ eines Kindes?
Analysierte Studien: 17 Beobachtungsstudien
Mögliche Interessenskonflikte: Keine laut Autoren

Horta BL, Loret de Mola C, Victora CG. Breastfeeding and intelligence: a
systematic review and meta-analysis. Acta Paediatr. 2015 Dec;104(467):14-9. (Zusammenfassung der Übersichtsarbeit)

[8] Amitay u.a. (2015)
Studientyp: systematische Übersichtsarbeit und Meta-Analyse
Fragestellung: Senkt Stillen das spätere Risiko für Leukämie?
Analysierte Studien: 17 Fall-Kontrollstudien
Mögliche Interessenskonflikte: Keine laut Autoren

Amitay EL, Keinan-Boker L. Breastfeeding and Childhood Leukemia Incidence: A Meta-analysis and Systematic Review. JAMA Pediatr. 2015 Jun;169(6):e151025. (Zusammenfassung der Übersichtsarbeit)

Weitere Quellen

[9] UptoDate
Infant benefits on breastfeeding
Abgerufen am 8. 6. 2016

[10] Bundesministerium für Gesundheit, Familie und Jugend (2006)
Säuglingsernährung heute
Abgerufen am 5.3.2014, PDF

Aktualisierte Version, ursprünglich veröffentlicht am 26. März 2014. Eine Aktualisierung [6,7] der systematischen Übersichtsarbeit der WHO [2] relativiert frühere Hinweise, wonach Stillen Cholesterinspiegel, Blutdruck und Diabetes-Risiko positiv beinflussen soll.

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